Samstag, 2. Juli 2011

(K)eine normale Familie

Die meisten Adoptiveltern wünschen sich eine normale Familie. Eltern adoptieren, weil sie entweder keine eigenen Kinder bekommen können oder weil sie zusätzlich zu ihren leiblichen Kindern weiteren Kindern eine Familie bieten wollen. Sie hoffen, mit ihren adoptierten Kinder eine normale Familie werden zu können und tun oftmals alles, um den Anschein der Normalität aufrecht zu erhalten. Dazu gehört zum Beispiel, dass die Dokumente der Kinder (Geburtsurkunde) keinen Hinweis auf ihre leiblichen Eltern oder die Adoption enthalten sollen. In der Familie nimmt das Kind den Platz eines leiblichen Kindes ein.

Und obwohl die Kinder sich auch nichts anderes wünschen als eine normale Familie, ist die Adoptivfamilie anders. Das wird insbesondere den Eltern schmerzlich bewusst, die bereits leibliche Kinder haben und sich stark genug fühlen, weitere Kinder zu adoptieren. Sie erfahren, wie durch die Adoption ihre Familie verändert und auch das Verhältnis zu ihren leiblichen Kindern neu definiert wird. Ihre 'alte' Familie geht unwiederbringlich verloren.

Während das Anderssein zunächst nichts Negatives sein muss, entsteht aus der Inkongruenz zwischen Erwartung und Realität ein ethisches und tatsächliches Problem. Wenn Adoptiveltern eine normale Familie erwarten und ihre adoptierten Kinder wie leibliche Kinder behandeln, laufen sie Gefahr, viele Bedürfnisse ihrer Kinder nicht zu erkennen und auf ihre Kinder falsch zu reagieren. Adoptivkinder haben die Trennung von ihrer Familie erlebt und in vielen Fällen Misshandlungen, Vernachlässigung, Hunger und Lieblosigkeit. Die Liebe ihrer neuen Eltern ist häufig nicht genug, um diese Erfahrungen zu kompensieren. Der 'Normalität' obwohl von allen Seiten gewünscht fehlt die Grundlage von Vertrauen und Zuversicht.

Das Buch "Survival Tipps für Adoptiveltern" von Christel Rech-Simon und Fritz B. Simon macht eindrucksvoll auf diese Falle aufmerksam und ist daher Pflichtlektüre für alle zukünftige Adoptiveltern. Sie erklären, wie 'normale' Erziehungsmethoden bei Adoptivkindern das Gegenteil bewirken können. Die Bücher von Bettina Bonus sind sehr aufschlussreich auch für Eltern von Kindern, die nicht traumatisiert sind.

Für derzeitige und zukünftige Adoptiveltern ist es von zentraler Bedeutung, sich einzugestehen, dass über den Weg der Adoption keine normale Familie gegründet werden kann. Die neue Familie, die durch Adoption entsteht, ist anders. Sie ist gegründet auf dem fundamentalen Verlust des Kindes seiner eigenen Eltern und seiner leiblichen Familie. Dieser Verlust wird die Adoptivfamilie begleiten, prägen und auf immer verändern. Dieses zu akzeptieren und zu verstehen ist ein großer Schritt für die neue Familie. Ihn zu negieren, verharmlosen und verschweigen, führt zu Scham, Frustration und Konflikten.

Zurzeit wird in der Vorbereitung zukünftiger Adoptiveltern die Situation des verlassenen Kindes sehr wenig thematisiert. Zu sehr konzentrieren sich Vorbereitungsseminare auf die Aufnahmesituation in die neue Familie und die Bindung an die neue Familie mit der Hoffnung, dass diese dann zu einer 'normalen' Familie mutiert. Das ist eine Illusion. Ohne den Verlust des Kindes zu verstehen und als integralen Bestandteil der neuen Familie zu akzeptieren und ohne die Einsicht, dass die Adoptivfamilie keine 'normale' Familie sondern anders ist, kann die neue nicht 'normale' Familie kaum gelingen.

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